Festvortrag zum 150. Stiftungsfest der Gesellschaft Harmonie
Die Gesellschaft Harmonie feiert heute ihr 150-jähriges Bestehen und kann damit auf einen langen Zeitraum zurückblicken, den ich mit Rücksicht auf die knappe Zeitvorgabe nur im Sauseschritt durcheilen kann.
Die Geschichte der Gesellschaft ist eng verbunden mit der wirtschaftlichen Entwicklung von Herne.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Herne eine kleine Landgemeinde mit einigen Bauernhöfen und ca. 2000 bis 3000 Einwohnern.
Gewaltige Umbrüche kündigten sich nunmehr an. 1847 erhielt Herne mit einer Bahnstation den Anschluss an die Köln-Mindener Eisenbahn. 1857 wurde der erste Schacht der Zeche Shamrock abgeteuft. Schnell folgten in den sechziger Jahren weitere Schachtanlagen wie „Von-der-Heydt“, „Julia“, „Mont-Cenis“, „Teutoburgia“ und „Constantin“.
Mit dem Aufstieg des Bergbaus entwickelte sich in der Gründerzeit und den Folgejahren eine schnell aufblühende Eisen- und Gewerbeindustrie, für die Firmennamen wie Halstrick, Baum, Beien, Berninghaus, Dorn und Flottmann repräsentativ sind.
Das Sagen in der Gesellschaft hatten bis dahin besitzende Landwirte und erfolgreiche Kaufleute inne, zu denen sich nunmehr leitende Bergbauangehörige gesellten, die damals noch aus dem Kaufmannsstand hervorgingen.
Das gesellschaftliche Leben verlief in ruhigen Bahnen. Die Herren trafen sich am Feierabend regelmäßig zu einem Dämmerschoppen. Aus ihm entwickelte sich eine feste Stammtischrunde, die sich schließlich zu einem Verein mit Satzung unter dem Namen „Gesellschaft Erholung“ zusammenschloss.
Das genaue Gründungsdatum ist urkundenmäßig nicht zu belegen. Immerhin wird von einer Gründungsurkunde vom Oktober 1868 berichtet.
Mit dem Anwachsen der Stadt Herne stieg auch der Zuzug von Akademikern, die ebenfalls in die Gesellschaft „Erholung“ eintraten. Aber durch ihr – ich zitiere aus einer früheren Festrede – burschikoses, studentisches Wesen und durch phänomenale Trinkfreudigkeit und Trinkfestigkeit erregten sie Anstoß bei den soliden bürgerlichen Mitgliedern der Gesellschaft. Die Reibereien führten schließlich dazu, dass diese als Störenfriede empfundenen Mitglieder aus der Gesellschaft ausschieden und ihrerseits eine eigene Gesellschaft unter dem bezeichnenden Namen „Die Tränke“ gründeten.
Den Zweck der Gesellschaft „Erholung“ umschrieb die Satzung kurz und knapp mit „Förderung der Geselligkeit“. Zur Geselligkeit gehörte es, auch Feste zu feiern, deren regelmäßiger Höhepunkt das jährliche Stiftungsfest war.
So bestanden also in Herne zwei Gesellschaften nebeneinander, die „Erholung“ und die zusehend bürgerlicher werdende „Tränke“.
Beide Gesellschaften hielten an der Tradition regelmäßiger Zusammenkünfte fest und feierten, wie in wilhelminischer Zeit für das gehobene Bürgertum üblich, glanzvolle Feste. Die über 40 Jahre währende Friedenszeit unterbrach jäh der Ausbruch des ersten Weltkrieges.
Nach dessen Beendigung gelang es schließlich, beide Gesellschaften – die Erholung und die Tränke – zu vereinigen. Die Gesellschaften lösten sich auf und gründeten im Jahre 1920 eine neue Gesellschaft unter dem programmatischen Namen „Harmonie“.
Während der ersten Jahre der Weimarer Zeit konnte die Gesellschaft wieder an die guten alten Zeiten anknüpfen. Ständige Festlichkeiten waren wiederum ein Sommerausflug, ein Nikolausfest und ein Familienabend mit Tombola, der regelmäßig am 2. Weihnachtstag als „Tanz unter dem Weihnachtsbaum“ stattfand, sowie als Höhepunkt natürlich das Stiftungsfest.
Diese Jahre nach dem ersten Weltkrieg waren, wie es in den Annalen heißt, eine Blütezeit unserer Gesellschaft.
Gegen Ende der zwanziger Jahre verschlechterte sich in Deutschland die allgemeine wirtschaftliche Lage, was nicht ohne Auswirkung auf die Gesellschaft blieb. So beschloss im Jahre 1930 die Gesellschaft, das Stiftungsfest angesichts der wirtschaftlichen Notlage nur in Form eines geselligen Abends im einfachen Rahmen zu begehen.
Mit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Diktatur im Jahre 1933 geriet die Gesellschaft zunehmend unter Druck. Die offiziellen Anfeindungen von nicht gleichgeschalteten Vereinen bewirkten schließlich einen erheblichen Rückgang der Mitgliederzahl.
Ein weiterer, tiefer Einschnitt erfolgte mit dem Beginn des zweiten Weltkrieges. Am 20. November 1939 beschließt die Gesellschaft, wegen der Zeitumstände – wie es im Protokoll heißt – bis auf die Nikolausfeier von weiteren Festlichkeiten Abstand zu nehmen, wie es dann auch geschah.
Nach Kriegsende beschließen die verbliebenen 59 Mitglieder, von denen noch drei in Gefangenschaft waren, am 16. Oktober 1947 einstimmig das Weiterbestehen der Gesellschaft. Sichtbares Zeichen des allgemeinen Wunsches nach Kontinuität war die Wiederwahl von Herrn Dr. Münnekehoff als Vorsitzenden, einem anerkannten Herner Frauenarzt, der dieses Amt bereits seit dem Jahr 1910 bekleidet hatte.
Der bald folgende wirtschaftliche Aufschwung beflügelte auch die Gesellschaft. Nicht nur die besagten regelmäßigen Veranstaltungen fanden statt, sondern Tanzkurse, Bridgenachmittage, Spielabende, Vorträge und Theateraufführungen mit Mitgliedern als Laiendarstellern sowie Karnevalsfeiern gaben vielfältigen Anlass zu Frohsinn und lebendigem Meinungsaustausch.
Heute blicken wir mit Wehmut auf dieses lebhafte „Vereinsleben“ zurück. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Der Beruf verlangt den ganzen Mann; ein prall gefüllter Terminkalender ist sein Kennzeichen.
Aber auch die Familie stellt – anders als früher – Ansprüche an den Vater, die er nicht mehr einfach auf die Ehefrau und Mutter abschieben kann.
Schließlich sind Fernsehen und Sport die modernen Zeitfresser, die mannigfaltige Alternativen zur Freizeitgestaltung und Erholung oder Zerstreuung bieten.
Diesen Veränderungen hat die Gesellschaft Rechnung getragen. Beibehalten blieben Stiftungsfest und Herrenabend, dem sich nunmehr auch ein Damenabend zugesellte. Am Aschermittwoch erfreut sich das Fischessen großer Beliebtheit.
Verstärkt legte die Gesellschaft ein Schwergewicht auf kulturelle Veranstaltungen. Unter einem wechselnden und aktuellen Programm werden Besuche von Kunstausstellungen und Vorträgen angeboten.
Ein jährliches „Highlight“ unserer Gesellschaft sind auch die sog. Kulturreisen, die seit Jahren hervorragend vom Ehepaar Stemmann organisiert werden. Regelmäßig werden Städte über ein verlängertes Wochenende aufgesucht. Die heute anwesenden Mitglieder, die teilgenommen haben, erinnern sich sicherlich noch begeistert an die diesjährige Fahrt nach Hamburg mit ihrem vielfältigen und informativen Besichtigungsprogramm.
Die Gesellschaft war in Wirklichkeit beileibe keine reine Herrengesellschaft. Denn die Damen der Gesellschaft waren natürlich – bis auf eine Teilnahme an der Mitgliederversammlung – gern gesehene Gäste; ihre Rolle beschränkte sich nicht darauf, nur schmückendes Beiwerk zu sein, ganz im Gegenteil, gerade bei der Programmgestaltung waren die Ehefrauen des Vorstandes hoch willkommen, sie hatten stets ein gewichtiges Wort mitzureden und brachten kreative Vorschläge ein.
Ein Manko bestand jedoch darin, dass Frauen nicht Mitglieder der Gesellschaft werden konnten.
Die Gesellschaft hat nunmehr im Jahre 2017 die Satzung geändert und auch Frauen die gleichberechtigte Mitgliedschaft ermöglicht, von welcher Option auch in größerem Umfang Gebrauch wurde.
Im heutigen Jahre 2018 haben wir als Leitthema das Ende des Kohlenbergbaus im Ruhrgebiet gewählt. Die letzte Zeche schließt bekanntlich in Bottrop im Dezember dieses Jahres.
Der Besuch der Ausstellung auf Zeche Zollverein „Das Ende des Kohlenzeitalters“, führte uns nochmals vor Augen, dass der Bergbau die Grundlage für die Existenz und die Identität unserer Region, des Ruhrgebietes, war.
Aber auch mit den Schattenseiten des Bergbaus haben wir uns beschäftigt. So hat uns der Besuch einer szenischen Bearbeitung der Aufzeichnungen eines anonym gebliebenen Bergmannes „Die Männer von Luise“, dargeboten von dem Schauspieler Till Beckmann, einem Enkel unseres langjährigen Mitgliedes Prof. Beckmann, unter dem Titel „Weg vom Fenster“ eindringlich vor Augen geführt, welche gesundheitlichen Opfer der Bergmann aufbringen musste.
Über 150 Jahre hat die Gesellschaft die Entwicklung Hernes und des Bergbaus begleitet und miterlebt. Maßgebliche Mitglieder waren leitende Bergbauangehörige, deren Spuren auch heute noch in Herne zu finden sind. Ich erwähne beispielsweise den Bergrat Behrens, der als Generaldirektor der Hibernia eine der prominentesten Persönlichkeiten der damaligen „Erholung“ war.
Stolz blicken wir zurück auf die lange und großartige Geschichte der Gesellschaft Harmonie.
Mit Respekt und Dankbarkeit nenne ich hier die Namen der Vorsitzenden, die über lange Jahre hindurch die Gesellschaft geprägt haben. Dies war einmal der bereits erwähnte Dr. Münnekehoff für die Jahre 1910 bis 1950. Ihm folgte Rechtsanwalt Friedrich Wilhelm Schlenkhoff für die Jahre 1950 bis 1969. Seit dem Jahre 1979 setzt sein Schwiegersohn, Herr Rechtsanwalt Kleyboldt, bis heute die Tradition der Familie Schlenkhoff fort.
Mit dem heutigen Stiftungsfest ist für uns jedoch nicht „Schicht am Schacht“.
Tradition bedeutet für uns, der Vergangenheit verbunden zu sein, der Gegenwart zugehörig zu sein und der Zukunft verpflichtet zu sein.
Wir fühlen uns verpflichtet, das Erbe unserer Gesellschaft zu hüten und den Fortbestand zu sichern. Dies ist ein Appell an alle, nicht nur an den Vorstand.
Wir verstehen uns nicht als exklusiver Kreis, sondern sind offen für alle Mitglieder, die Freude am persönlichen, allgemeinen und kulturellen Meinungsaustausch haben. Richtungsweisend ist unser Name: Harmonie. Er bedeutet Übereinstimmung, Einigkeit und Eintracht.
In diesem Sinne wünsche ich der Harmonie ein weiteres Blühen, Wachsen und Gedeihen!
Rainer Hoefs
Herne, 03. November 2018